Alles Arschlöcher!

Alles Arschlöcher!

Elektropost vom 24.03.2023

Empfohlen hab ich ihn ja schon. Nun hab ich ihn auch gelesen. Und ich darf vermelden, dass ich total begeistert bin. Ich spreche vom neuen Roman von Virginie Despentes. Damit war zwar zu rechnen, denn mit allem, was zuvor von ihr kam, hat sie mich auch gekriegt. Mittlerweile glaube ich sogar, das Frau Despentes die größte Checkerin im Universum ist. Wenn ich mich irgendwo verlaufe, würde ich gern sie um Rat fragen. Ob mir die Antwort gefallen wird, weiß ich nicht. Und ob sie die Antwort überhaupt kennen wird, weiß ich auch nicht. Aber im Leben zählt nicht unbedingt das was man weiß oder zu wissen glaubt. Wichtig ist, dass man die richtigen Fragen stellt.
Und in "Liebes Arschloch" (im Original "Cher Connard") werden so gut wie alle relevanten Fragen gestellt. Dass es sich beim Buch um einen fiktiven E-Mail-Briefwechsel handelt, aka Briefroman, ist dabei nicht das spannendeste. Aber es ist ein großartiger Kniff. Wer kennt das nicht? Man bekommt eine Nachricht von der man weiß, man sollte sie eigentlich ignorieren. Aber statt sie zu ignorieren, liest man sie und antwortet dann sogar darauf. Man weiß sofort: Das war ein Fehler und startet eine Konversation, die man gar nicht wollte. In ihrem Roman ist gegenseitige Abneigung gleichzeitig aber auch der Start zur Annäherung. Aber halt: Das hier ist kein Wohlfühlroman. Es gibt kein "und-wenn-sie-nicht-gestorben-sind", obwohl einem die Arschlöcher beim Lesen tatsächlich ans Herz wachsen.

Das Thema ist aber schon Versöhnung. Wider den Shitsorm, der nicht nur in Frankreich oft organisiert daherkommt. Was nicht gegen das Eigenleben in der Dynamik solcher verbaler Gewaltexesse spricht.

Irgendeine Sucht pflegen die meisten von uns, machen Dinge, von denen sie wissen, die sind nicht gut für mich, egal ob das Alkohol und Drogen sind, das Handy, toxische Partnerschaften oder die Arbeit, oder, oder, oder. Man kommt nicht weg davon und schämt sich eigentlich dafür oder checkt nicht, was die eigene Abhängigkeit im Umfeld anrichtet. So findet Gewalt und Missbrauch auch immer eine Rechtfertigung. Was hab ich schon getan?

Frau Despentes, die einst ihre eigene Vergewaltigung publik gemacht hat, wird zuweilen ja dafür kritisiert, Verständnis für den Vergewaltiger aufzubringen. Ein perfider Vorwurf. Denn Verständnis heißt nicht immer, das man jeden Scheiß auch akzeptiert oder hinnimmt, nur weil man zu verstehen glaubt wie es dazu kam. Frage: Warum soll das Opfer einer Vergewaltigung Scham empfinden müssen? Reicht nicht die Wut über die Tatsache, dass sich jemand so eine Gewalthandlung herausnimmt und man unterlegen war? Sie lässt eine Figur ihres Romans die Frage stellen, warum wir nicht 1000 Ausdrücke für Vergewaltigung haben? Gewalt oder deren Androhung bestimmen allzu oft die Verhältnisse. Wer hält den Mund aus Angst, weil man nicht weiß wie man sich wehren soll? Betrifft das nur Frauen? Geht das nicht schon in der Schule los, wenn z.B. der Oberarsch die Jungs tyrannisiert, die mit den Mädchen spielen und dafür sofort ein willfähriges Publikum bekommt? Wie kann man die eigenen Kinder vor Shitstorms und Hatespeech im Internet schützen? Hat Erziehung überhaupt einen Sinn angesichts solcher Gefahren? Warum definieren sich manche nur durch die Herabsetzung anderer? An einer Stelle beklagt sich eine Figur im Roman über das Gebot zur Selbstfindung. Wieso muss man sich selbst finden, wenn man doch eigentlich im Gegenteil die Chance hat jemand anderes zu werden? Dies und 1000 andere Fragen ergeben sich aus "Liebes Arschloch". Kein Roman, der eine Ideologie begründen wird. Eher das Gegenteil davon. Aber ein feministischer Roman, der allerdings nicht allen Feministinnen gefallen wird. Ein Roman über den man endlos diskutieren kann. Eine Beschreibung unserer Zeiten. Kein Sachbuch, keine wissesnschaftliche Arbeit könnte annähernd das leisten, was Virginie Despentes hier gelingt. Meisterwerk! Connard bedeutet im Übrigen nicht unbedingt Arschloch. Vollidiot trifft es mindestens genauso gut...

Schön auch die Episode in der Oscar versucht ein Zugticket für den Hund zu lösen. Extra fährt er eine Stunde vor Abfahrt des Zuges zum Bahnhof. Der Automat kann das Ticket nicht ausstellen. Vor dem Schalter wird er von Einlasspersonal abgefangen: Bitte überprüfen Sie, ob Ihr Anliegen nicht durch den Automaten gelöst werden kann! Nein, kann es nicht. Aber auch die Mitarbeiterin am Schalter scheitert. Sie kennt den Code nicht, den man dafür eingeben muss. Sie befragt alle Mitarbeiterinnen, ruft Kollegen an. Keiner weiß es. Auf die Frage, ob sie nicht handschriftlich ein Ticket und eine Quittung ausstellen könnte, was man dann dem Schaffner im Zug zeigen könnte, weist sie entsetzt zurück. Nein, das geht nicht! Da werden Sie aus dem Zug geworfen! Eine Kommunikation zwischen den Menschen, ohne Maschine? Schwierig! Dann findet sich der passende Code doch noch rechtzeitig. Am Zug dann das Bild des Schaffners mit seinem Scanner und seiner ständigen Angst davor, dass dieser gültige Tickets nicht erkennt. Was dann?

Herrliches Bild und Überleitung zu Pigor und Eichhorn, die am Sonntag im Stadttheater auftreten werden, veranstaltet von den Kollegen der Kleinkunstbühne. Bereits 2011 gelang ihnen mit "Nieder mit IT!" eine grandios wütende Beschreibung der digitalen Hölle. "Rache für die gebrochenen Versprechen von IT". In 12 Jahren hat sich nicht allzu viel verändert, der Song ist immer noch aktuell... Es wird eher immer noch schlimmer.

Und wenn wir gerade schon bei Kollegen sind. Das Jazzfest Mindelheim "Jazz isch" feiert an diesem Wochenende 30-Jahriges Jubiläum! Wir gratulieren und wünschen noch viele weitere gelungene Jahre im Dienste der Musik...

Nächste Woche am Donnerstag wird bei uns übrigens die Telefonanlage umgestellt. Klappt angeblich total easy... schau mer mal!

Wer noch Wunschlisten zum RSD abgeben möchte, kann das gerne noch machen. Allerdings sind über die Hälfte der Orders schon platziert. Aber das Prinzip des RSD ist ohnehin first-come first-served. Nicht jeder Titel wird ans Lager kommen. Rein schauen lohnt immer. Termin: 22. April! Hier nochmal ein Link zur aktuellen Liste.

Wir sehen uns!