Daheim sein ist ein ernstzunehmender Vorgang!

Daheim sein ist ein ernstzunehmender Vorgang!

Elektropost vom 25.03.2020

Zwei Dinge vorneweg: social distancing ist nicht der richtige Ausdruck! Es muss - wenn schon - dann physical distancing heissen. Warum man das in englisch sagen muss, wo doch sowohl das glorreiche Großbritannien, wie auch die unglaublich wunderbaren USA nicht gerade Führungsrollen in der augenblicklichen Situation eingenommen haben, sei auch dahingestellt. Ich habe jedenfalls in den letzten Tagen so viel mit Kunden und Freunden getalked, gephoned, gemailt wie seldom zuvor. Auch für Solidarität gäbe es übrigens ein englisches Wort...

Zweitens: Systemrelevant! Viele scheinbar systemrelevante Berufe sind schlicht unterbezahlt. Ist das eine Neuigkeit? Wie wär's an der Stelle mit einem kurzen und knappen, aber saftigen "Scheiß System!" ?

Jedenfalls werde ich, falls das jetzt alles zusammenbrechen, aber dennoch uns das System erhalten bleiben sollte, das ganze Land aus reinem Trotz mit einer Franchisekette überziehen, wie man sie seit Schlecker nicht mehr gesehen hat. Meine Ladenkette wird "Schöner Scheißen!" heissen, denn darum geht es ja offensichtlich in erster Linie. Neben Klopapier in allen Qualitätsstufen und für jeden Geldbeutel gibt's den Norovirus gleich noch kostenlos mit dazu. Denn es soll sich ja für beide Seiten lohnen.

Ein ganz besonderer Treppenwitz der Geschichte ist, dass Amazon letzte Woche vorerst aufgehört hat Bücher, CDs und Platten nachzuordern. Sie müssen jetzt wichtigeres (mit besserer Gewinnspanne) stocken. Flexibel reagieren auf die jeweiligen Bedürfnisse der Masse (siehe oben). So lieben wir unseren Kapitalismus.

Es ist gerade viel los im Netz. Igor Levit spielt Klavier, Neil Young gibt Fireside Sessions, um nur zwei Daheim-Performer zu nennen. Daheim sein ist ein ernstzunehmender Vorgang, sagte einst Gerhard Polt, um nicht in eine Talkshow zu müssen.

Wer auch lieber auf Talkshows verzichtet, aber gerne zb Igor Levit oder Neil Young zuhause hören möchte; ich berate gerne over the phone oder per mail in einer social Aktion. Die letzten Tage haben uns auf's Neue vorgeführt, warum wir eigentlich das machen was wir machen. Sicher müssen wir Geld verdienen (s. System), denn man muss Essen kaufen, man muss wohnen, um überhaupt daheim sein zu können usw. Aber jetzt, da man auch mal Zeit für längere Telefonate hat, dringt man sehr schnell zum Kern der Sache vor. Und das ist ein sehr sozialer und solidarischer. Das ist die positive Seite der Medaille...

Auch ein paar Bob Dylan CDs und Schallplatten liegen noch in den unermesslich reich gefüllten Regalen unseres Ladens in der Herzog-Ernst-Strasse und würden sich über ein neues Zuhause freuen. Auch hier stehe ich mit Rat und Tat zur Seite. Für letzten Montag wäre ja unser Themenabend über Bob Dylan geplant gewesen. Wenn's sein muss, doziere ich nun one-to-one over the phone oder auch per Mail. Will sagen, ich warte auf Fragen aller Art, wie zb "Welche Dylan Alben gehören in jeden Haushalt?" oder "Welche Times sind eigentlich gerade am changen?" Nur zu! Ich weiß auch nicht auf jede Frage eine Antwort. Aber nur durch fragen wird man schlauer - und das gilt nicht nur für den, der die Fragen stellt.

Mit den Neuheiten der letzten Woche habe ich den Mund etwas zu voll genommen. Mittlerweile sind die Auslieferlager von Warner und Sony gesperrt. Hier traten COVID-19 Fälle auf und die Belegschaft wurde in Quarantäne geschickt. Somit ist nicht alles gekommen, womit wir gerechnet hatten. Aber auch hier gilt: einfach nachfragen!

Zwei neue Alben sind mir aber besonders wichtig und sie sind auch bereits angekommen. Beide von Künstlern, die aus Ländern kommen, in denen es grundsätzlich nicht so kuschelig zugeht wie bei uns. Wir haben hier keine Hungersnot. Unser Laden wurde nicht von Plünderen, sogenannten Islamisten oder anderen unzivilen Kohorten heimgesucht. Auch war bis jetzt keine Armee der Welt der Meinung, dass es eine gute idee wäre mal ein paar Bomben auf Landsberg abzuwerfen. Wir sind immer noch privilegiert in der Krise.

Ich empfehle nicht nur deshalb das neue Album von Tamikrest aus Mali. Eine Tuareg Band, die tatsächlich einen sehr eigenen weltmusikalischen Stil entwickelt hat. Und Hailu Mergia, einst geflohen aus Äthiopien und dann Taxifahrer in Washington D.C, der immer sein Akkordeon dabei hatte, wenn mal keine Fahrt anstand und jetzt wieder Platten machen darf mit seiner Musik zwischen Etiopiques, Jazz, Easy Listening, Reggae und was weiß ich noch... eine wunderbare Mischung jedenfalls - beide Alben sind übrigens auf CD und Vinyl zu haben. Musiken voller Hoffnung, und zwar nicht der naiven Art. Hoffnung, so lernte ich neulich in einem Gespräch der gegenseitigen Telefonseelsorge ist ja nicht der Glaube daran, dass alles gut wird, sondern Hoffnung ist, zu glauben, das alles einen Sinn hat!

In diesem Sinne...