Einerseits - Andererseits

Einerseits - Andererseits

Elektropost vom 17.04.2020

Nun ist es ja soweit. Wir dürfen ab 27.04. wieder öffnen. Ehrlich gesagt gibt mir das ein einerseits-andererseits Gefühl. Denn es wäre naiv zu glauben, dass wir damit auch nur annähernd zu dem zurückkehren können, weshalb wir jeden Tag aufsperren. Unser Laden ist ein Treffpunkt, ein Kommunikationsort, ein Ort zum Stöbern und zum Verweilen. Hier läuft es anders als im Supermarkt. Es braucht nicht viel Vorstellungsvermögen um zu verstehen, dass, solange Kontaktsperren gelten, Abstandsregeln eingehalten werden müssen, Masken getragen werden sollen, und solange weder die öffentlichen Plätze, noch Cafés und Restaurants zu einem sozialen Leben einladen dürfen, auch bei uns so gut wie gar nichts ist wie vorher.
Gut, ein klein wenig kann man die Tür aufdrücken und ein wenig von der frischen Luft atmen, die uns bald wieder erwarten wird. Das "bald" wird aber eher in Monaten zu bemessen sein, denn in Wochen. Hoffen wir, dass es nicht Jahre werden. Wir sind hier noch am Durchdenken der nun erforderlichen nächsten Schritte. Ich melde mich dazu nächste Woche.
Sicher ist, dass wir nicht wie gewohnt öffnen werden. Es wird eingeschränkte Öffnungszeiten geben müssen und wir werden sicherstellen, dass wir über eMail und Telefon mit all denjenigen in Kontakt bleiben, die nun nicht oder nicht mehr so oft nach Landsberg kommen können oder wollen. Alles mit dem Ziel, zu erhalten was uns ausmacht und Freude bereitet. Und die Zeit danach zu gestalten...
Im Übrigen halte ich nichts von der seltsamen Allianz zwischen Wirtschaftslobbyisten und Alt-68ern, die jetzt zur Rebellion gegen die "staatlichen Abzocker und Freiheitsberauber" zu Felde ziehen. Es geht jetzt hier schlicht um Vernunft. Und es ist vernünftig, vorsichtig zu sein. Vernünftig wäre auch, darüber nachzudenken, wem jetzt wie am besten geholfen werden kann. Wer die Zauberformel für alles hat, möge bitte in die erste Reihe vorrücken und sich der Verantwortung stellen.

Ostern war in diesem Jahr wirklich eine spezielle Erfahrung. Jedenfalls eine Gelegenheit zum Nachdenken. Das habe ich getan und mir ist es sogar gelungen das ganz ohne Panikattacken hinzubekommen. Warum? Weil ich erstens darauf vertraue, dass diese Seuche wieder vorbeigehen wird. Weil ich hoffe, dass wir als Gesellschaft tatsächlich vernünftig genug sind, den Spagat zwischen Vorsicht und Gelassenheit hinzubekommen. Sollte alles viel schlimmer sein oder werden als angenommen, dann bleibt immer noch der Galaxy Song (hier mit Stephen Hawking) von Monty Python und die Erkenntnis, dass wir uns alle nicht so verdammt wichtig nehmen sollten. Respektvoll zu sein im Umgang mit seinen Mitmenschen ist schon fast alles was man als Mensch tun kann. Der Rest ergibt sich von selbst.

Vielleicht liegt es aber auch daran, dass einem - wenn man wie ich seit 35 Jahren mit Musik und Büchern zu tun hat - Krisenbewältigungen nicht ganz fremd sind. Ich hatte mal anläßlich des 40-jährigen Jubiläums von ECM ein Gespräch mit Manfred Eicher. Da sagte er "40 Jahre ECM - 40 Jahre Krise!" ...den Humor würden ihm viele gar nicht zutrauen, das Durchhaltevermögen schon. Mir ist sowas durchaus Vorbild.

Und die letzten Wochen haben uns hier im (geschlossenen) Laden deutlich gezeigt, dass das was wir machen nicht nur Selbstzweck ist, sondern für viele etwas bedeutet. Ich kann mir ein Leben ohne die Kunst nicht vorstellen. Wie auch? Dazulernen, neues zu entdecken, die Welt mit den Augen anderer sehen... was gibt´s Spannenderes? Und nur die Kunst kann uns sowas ermöglichen und dadurch auch bei allen anderen Entscheidungen im Leben hilfreich sein.
Aber selbstverständlich war es nicht, dass uns soviele in Phase 1 dieser ausserwöhnlichen Situation so tatkräftig unterstützt haben. Das werden wir nie vergessen. Der Mensch tendiert ja gern dazu anderen gutgemeinte Ratschlägen angedeihen zu lassen, was ihn oft daran hindert selbst zu helfen. Wir haben Hilfe erfahren und sind dafür sehr dankbar. Auch wir werden weiter helfen, da wo wir es können. Nur so wird ein Schuh draus....

Ich hoffe, ihr habt alle Eure Pakete noch rechtzeitig erhalten und wir haben nicht allzu viel verbockt. Es ist ja nicht so, dass wir keine Versanderfahrung hätten. Nur ist es schon was anderes, wenn man den Versand eher so nebenbei im Tagesgeschäft abwickeln kann, als das was wir zuletzt hatten: Versand und Ausliefern von Früh bis Spät! Ich glaube aber, wir haben das bisher ganz gut bewältigt und sind auch bereit das weiterzuführen so lange es nötig ist. Mit Sicherheit werden wir noch lange eine extended Version der Versandaktivitäten anbieten. Jetzt aber erst mal zurück zu Ostern. Tatsächlich haben wir zuhause geputzt in Ecken in die noch nie ein Mensch zuvor... Aber ehrlich gesagt ging mal wieder die meiste Zeit mit Lesen und Musikhören drauf. Und das war unbestritten herrlich.

Neu gelesen und unbedingt empfehlenswert ist das neue Buch von Hari Kunzru. Es heisst "Götter ohne Menschen". Ich musste das lesen, nachdem ich den Vorgängerroman "White Tears" bereits für einen großen Wurf gehalten habe. Und "Götter ohne Menschen" ist nicht weniger grandios.

Wiederaufgelegt und von mir erstmals gelesen ist "Gimme More" von Liza Cody. Dieser im Jahr 2000 erschienene Roman ist ein unfassbar gelungenes Bild der gierigen Seite des Musikbusiness und gleichzeitig ein großartiger Beitrag zur feministischen Literatur. Und zwar zu der Seite der feministschen Literatur, die Humor hat und sich nicht zu schade ist, auch anzuerkennen, dass auch Frauen ganz schön scheisse sein können...

Ausserdem lese ich gerade Thomas Steinfelds sehr gescheites Buch über Italien: Portrait eines fremden Landes.

Die Menschen in Italien verdienen nicht nur jetzt in der Tat besondere europäische Solidarität - auch wenn gerade in Italien nicht immer alles so ist wie es scheint. Italien ist zwiespältig. Aber besser zwiespältig als einfältig, denke ich mir.

Und da bin ich jetzt schon bei der Musik. Neulich, in der Elektropost v. 13.03., also noch vor dem Lockdown, hab ich eine Liste gepostet mit diversen aktuellen Musiktipps, die alle gute Resonanz fanden und auch geordert wurden, mit Ausnahme einer: Jovanottis neues Album "Lorenzo Sulla Luna" wurde durch die Bank ignoriert. Manch einer dachte vielleicht ich mache einen Witz. Wieso empfiehlt der Dr.Epple leichte Popmusik aus Italien? Da muss ich wohl aufklären. Erstens habe ich überhaupt nichts gegen gute Popmusik. Ich finde sogar im Gegenteil, es ist wahnsinnig schwer wirklich gute leichte Musik zu machen. D.h. Musik, die ins Ohr geht ohne zu gefällig oder anbiedernd zu sein und ohne abgedroschenste Klischees zu verwenden. Gute Popmusik ist King! Und Jovanotti ist ein echter König! "Lorenzo Sulla Luna" ist ein Konzeptalbum über den Mond. Auch über den Mond in Italien... Es besteht zum größten Teil aus Coverversionen in wunderbaren Arrangements und jetzt kommt´s - Kinnlade festhalten - produziert von Rick Rubin. Hab ich aber erst bemerkt, als ich die Platte schon auswendig konnte. Also vertrauen Sie mir, ich weiß was ich tue und kaufen Sie Jovanottis neues Album "Lorenzo Sulla Luna" und denken Sie an Italien, an das gute Italien, an die vielen tollen Menschen zwischen der Alpensüdseite und Sizilien... Man wird das brauchen in diesem Sommer!

Absolute Kings of Pop sind für mich auch stets Donald Fagen und Walter Becker aka Steely Dan gewesen. Jim Beard (Piano) und Jon Herington (Gitarre) sind seit vielen Jahren Mitglieder der Steely Dan Band. Nun haben die beiden erstmals ein gemeinsames Duo-Album vorgelegt. Es heisst "Chunks And Chairknobs", erschienen bei Jazzline Records. Duos aus Piano und Gitarre, das ist nicht die einfachste Übung für die man sich als Musiker hergeben kann. Bill Evans und Jim Hall gelten hier als Maßstab. Aber das was die beiden machen ist nochmal ein ganz neues, ein echt tolles Kaliber. Und es hat auch einen Steely Dan Song drauf: Gaucho. Da die Stories ja nie aufhören und gerade Zeit ist. Bei Gaucho meldete einst Keith Jarrett Miturheberschaft an. Der Song weise Ähnlichkeiten mit "Long As You Know You´re Living Yours", erschienen auf dem Album Belonging auf. Hier ist die Story dazu, in Kurzform!

Im Schnelldurchlauf noch weitere neue Empfehlungen:

Zweimal fantastischer neuer Jazz aus London:
Shabaka & The Ancestors und Moses Boyd

Aus Holland: Jozef Van Wissem, ein Lautenspieler, der eigene Wege geht, die ihn bis zu Jim Jarmusch führten. Sein neues Album heißt "Ex Mortis"

Dumama + Kechou aus Südafrika mit ihrem neuen Album "Buffering Juju". Zwischen Tradition und Moderne...

Zum Beethovenjahr: Die Jazzrausch Bigband mit Beethoven´s Breakdown

Soul Jazz Records präsentieren eine ungewöhnliche Band aus Texas zwischen Kraut-und Spacerock, zwischen Jazz und The Cure, zwischen Rock und Electronics. Hörenswert: "Trees Speak"

Thievery Corporation melden sich mit einem neuen Werk, einem durchaus gelungenen Orchesterprojekt namens Symphonik.

Paul Brändle ist Gitarrist von Fazer und hat gerade sein erstes Soloalbum veröffentlicht. Solo im Sinne von Solo. Guitar only. Sehr schön!

Von Pokey LaFarge gibt´s auch was Neues

....von Thundercat

und auch von einer unserer liebsten Chanteusen aus Germania: Dota

Von unserem Freund Robert Forster gibt es zwei Re-Issues. Seine ersten beiden Soloalben nach Auflösung der Go-Betweens erschien 1990 (Danger in the Past) und 1993 (Calling From a Country Phone). Beide sind nun in wunderbaren Vinyl-Editionen jeweils inkl. einer extra 7" Single neu erschienen. Auch auf CD zu haben. Wer die exklusive Go-Betweens Box "G Stands for Go-Betweens Vol.2" bisher verpasst hat, ein Exemplar hätte ich noch zu bieten. Für den bayerischen Rundfunk gibt es aus Kostengründen ja leider in der Kultur oft nur München. Soviel Systemkritik darf ich mir hier erlauben. So gibt es eben keinen Mitschnitt des Robert Forster Konzerts aus Landsberg, aber einen von seinem letzten Münchner Auftritt. Für die gesamte Sendung ist die wunderbare Judith Schnaubelt verantwortlich, die alles mit kenntnisreichen Beiträgen und einem sehr guten Interview würzt - hier nachzuhören.

Und fast schon eine Randnotiz ist die Absage sämtlicher Veranstaltungen im Stadttheater zwischen Ostern und Pfingsten. Davon betroffen ist leider auch die Woche mit Musik von Gerd Baumann und die dazugehörigen Konzerte von Dreiviertelblut http://www.dreiviertelblut.de/. Die entsprechrenden offiziellen Infos dazu liest man hier.

Damit ist das nächste noch geplante Konzert im Stadttheater LBT am 19. Juni. Der Jazzclub Unterfahrt in München streamt morgen Abend ein Konzert ohne Publikum von LBT. Reinschauen lohnt sich.

Wir sehen uns!

...aber einen hab´ ich noch.